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Sonntag, 9. Februar 2014

Varanasi: Kühe, Sadus, Brandgeruch

Der "Main Ghat"


Unsere Entscheidung für einen Flug statt Autofahrt nach Varanasi sparte uns einen ganzen Tag. Die Zeit braucht man auch, denn Varanasi überfordert alle Sinne und verlangt nach einer dosierten Erfahrung in vielen kleinen Einzeldosen.

Varanasi soll um 1.200 v. Chr. von Kashya, dem Sohn von Suhottra, gegründet worden sein. Wer oder was Namensgeber für die Stadt war, ist nicht ganz gewiß. Varanasi  tritt bereits im Hindu-Epos Mahabharata und den buddhistischen Jataka-Erzählungen auf. Er wird herkömmlich gedeutet als Zusammensetzung aus Varana bzw. Varuna  und Asi bzw. Assi, den Namen der beiden Flüsse, welche die Stadt begrenzen. Wahrscheinlicher ist aber, dass allein der Varuna-Fluss, der in der älteren Literatur auch unter dem Namen Varanasi bekannt war, für die Stadt namensgebend war.

Die Stadt gilt als eine der ältesten Städte der Welt und ist religiöses Zentrum des Hindus. Sie ist die Stadt des Gottes Shiva Vishwanat („Oberster Herr der Welt“). Seit mehr als 2.500 Jahren pilgern Gläubige in die Stadt, die zudem ein Zentrum traditioneller hinduistischer Kultur und Wissenschaft ist. Mit über 4000 Tempeln zeugt sie bereits von der Spiritualität dieser 4 Mio Stadt, doch beim Gang durch die Straßen fallen noch viel mehr Tempelnischen in tiefen Kellerschächten auf oder in Schreinen in den Hausgemäuern. Entsprechend hoch ist auch die Dichte von weiß oder rot gekleideten Mönchen, Sadus und Gläubigern. Der Ganges ist der geistige Mittelpunkt. An seinen Ghats (Uferprommenade) ragen steile Mauern empor, die Fundamente für die Häuser. Sie markieren erlativ genau die Wasserlinie, denn zur Monsunzeit im September/Oktober kann der Ganges recht mächtig anschwellen und 12 m über die Ghats steigen.



Abendzeremonie für "Ganga" am Aarti Schrein




Enge Gassen, Dreck und Gehupe


Kinderarbeit? Es ist Sonntag. Die Füllung für Samosas wird gekocht...

Joghurtverkäufer


Die Moschee...

Unterhalb der Balkone ist der Pegel des Ganges zur Monsunzeit.


Bei unserem Eintreffen war der Ganges noch 10m tief, Tendenz weiter fallend. Dies bedeutete, dass die Ghats frei lagen und Gelegenheit boten, kilomerterweit auf der Promenade zu laufen.

Am besten jedoch erlebt man die Stadt vom Wasser aus. Zahlreiche Bootsbesitzer reden den Touri an. „Boot? I can give you good price“. Es gibt Unterschiede im Preis. Je weiter man jedoch am Main Ghat fragen sollte, desto geringer werden die Forderungen. In der Regel zahlt man für ein Boot 100 Rupies pro Person und Stunde. Dafür legt sich dann eine klapprige Gestalt in die Riehmen und rudert zuerst gegen den Strom in Richtung Main Ghat. Unterwegs reden einen zahlreicher Verkäufer an, die mit ihren Kähnen längs kommen und Nippes, Blumenschmuck und Kerzen anbieten. Sie wird man schwer wieder los. Wir starten stromaufwärts vom Jukasko Welcom Heritage. Dies gewährt uns einen Einblick auf das "Burning Ghat" von der Wasserseite. Fotografieren der Zeremonien ist unerwünscht, verständlicherweise. Weiter teieben wir in der aufgehenden Sonne dem Main Ghat entgegen. Badende und Betende. Gegen 7.00 klingen aus den unzähligen Templen die Gesänge, Glocken und das Blasen aus Hönern. Mystisch und ohne Gehupe.Wir verweilen einen Moment am Main Ghat und schauen diesem ständigen Strom ankommender Menschen zu, die ungestört von ihrer Umwelt für sich den Moment genießen, ihre Erfüllung im Ganges zu finden.

 










 

Gutes Karma für 10 Rupies


Ravi, Moons Bruder, auf einer Morgenausfahrt.


Zutaten für die Segnung durch die Brahma

Rituelles Haareschneiden
Als besonders erstrebenswert gilt es, in Varanasi im Ganges zu baden sowie dort einmal zu sterben und verbrannt zu werden. Es gibt Waschzeiten für Frauen und Männer. Unser Guide betont, dass sich die Frauen lieber im Dunkel ab 3.00 Uhr waschen, während die Männer eigentlich den ganzen Tag über zu beobachten sind. Letztere benutzen dazu eine Art Tanga, den sie unter einem Tuch anlegen. Es kostet sicherlich einige Überwindung, denn die Luft und das Wasser sind zu dieser Jahreszeit kalt. Wir sehen es aber auch an den Gesichtern, wenn die Menschen tapfer in die Fluten tauchen und mit weit aufgerissenen Augen wieder auftauchen. 

Unvorstellbar ist am Main Ghat der Dreck, der auf der Oberfläche treibt. Blütenblätter der unzählig gekenterten Schalen mit brennenden Kerzen, die hier gewassert werden, ist e sicherlich nur die angenehmste Form. Daher legen auch regelmäßig Fähren ab, die die Menschen auf die Ostseite des Ganges bringen, wo sie in sauberem Wasser und vor allem auch von Touris unbeobachtet baden können. 

Es entstehen bunte Bilder. Andächtig stehen die Gläubigen hüfthoch im Wasser, im stillen Gebet versunken, um gutes Karma bittend. Frauen baden mit ihren golddurchwirkten Saris. Kinder kennen keine Scheu und planschen vergnügt an der Hand ihrer Mütter. Hinter ihnen erhebt sich die Kulisse gelb, weiß. Pink gestrichener Stufen, okerfarbene Tempeltürme und die ornamentalen Fassaden alter Sandsteinpaläste mit verwitterten Farben und fast nenezianisch anmutender Bogenarchitektur.





Das Main Ghat ist der quirlige Mittelpunkt. Hier drängen sich die Besucher und Pilger an den Fluss. Eine breite Treppe, die mit Geschäften für Devotionalien gesäumt ist führt hinab ans Ghat. Sadhus in ihren leuchtend Orangefarbenen Gewändern und der für ihre Gottheiten typischen Stirnbemalung (Weiß-rot-weiß hochgestellte Streifen für Rama, quer für Shiva, roter Punkt für Vishnu?) warten auf Almosen oder ein Bild für einen Touristen (Hartgeld oder 10 Rupies für ein gutes Karma sind nicht zu wenig). 

Auf Plattformen sitzen die Brahmanen und halten kleine Zeremonien mit Segnungen ab, an deren Ende die Gesegneten den obligaten bunten Punkt auf die Stirn bekommen. „Friseure“ bieten ein „shaving“ an, egal ob man nun schon rasiert ist oder kurze Haare hat. Männer mit einem okerfarbenen langen Oberteil scheinen die Masseure zu sein. Sie bieten einem die Hand zur Begrüßung und fangen gleich an, sie zu kneten oder die Schulter zu begreifen. „You want massage? Very cheap“. 

Auf einer Treppe unterhält eine Art Sadu die Menge mit einem dressierten Affen, der im Takt die Zimbeln spielt. Mir fallen eher die von Bethelnuß rot gefärbten Zähne des Mannes auf, der hingebungsvoll singt. Eine junge Frau mit ihrem Säugling auf dem Arm verfolgt uns. „No money - milk“, sagt sie unablässig. Die Haare sind struppig und stehen vor Dreck. Ihr Gebiß ist jetzt schon lückenhaft mit fehlenden Schneidezähnen. Sie hält mir eine leere Plastikflasche unter die Nase. „Give milk!“ Ich bedaure, kann ich wirklich nicht. Aber die Kühe könnten… Ein Mann fällt mir dagegen auf und hat sofort mein Mitleid. Seine Füße und Zehen sind bis auf Stumpen verstümmelt, wie ich es von Leprakranken kenne. Angeblich gibt es Leprastationen für ihre Unterbringung, doch dort hält es die Menschen nicht…

Es gibt auch noch die „Schlangenbeschwörer“. Schnell öffnet ein älterer Mann in orangener Robe und gelbem Turban einen Korb und zieht seine Kobra hervor, die sich etwas irritiert über ihren schnellen Einsatz aufrichtet und den Mann fixiert, der jetzt in sein Blasinstrument flötet, das nach Dudelsackpfeife klingt. 10 Rupies bedeuten „gr0ßes Karma“ und wird sogar überschwenglich empfangen. Ein zweiter versucht mit einem rasselnden Armband seiner Kobra eine Richtung zu verleihen. Er freut sich auch über Hartgeld (5 Rupies).

Auffallend viele Brautpaare sind unterwegs. Ihr Weg führt sie als erstes in den Tempel, dann ans Wasser, wo eine kleine Zeremonie abgehalten wird. Immer schaut die Braut nicht glücklich. Auch ihr prächtig tiefroter Sari, die mit Henna verzierten Hände und Goldschmuck geschmückten Finger und Wangen können diesen Eindruck nicht wegwischen. Der Bräutigam dagegen blickt entschieden drein. Er trägt einen bunten Turban aus weiß-blauen Stoffbahnen mit goldenen Säumen und einer Feder auf der Spitze. Dazu eine Jacke mit hochschließendem Kragen, alles in edlem Stoff. Begleitet werden sie nur von den engsten Familienangehörigen. Das Fest mit den vielleicht 1000 oder mehr Gästen folgt vielleicht noch.

Wie bizarr wirken doch dazwischen die Kühe und Rindviehcher. Sie werden sogar gefüttert. Eimer mit angedicktem Stroh oder anderen undefinierbaren Kügelchen stehen im Wege. Gutes Karma für einen Sack voll Stroh? Ich denke, sie verteilen ihr Karma auf den Gehwegen. Niemanden stört es, die Viehcher jedoch auch nicht. Sie stehen oder liegen an den unmöglichsten Stellen, selbst mitten auf der Straße, wo sie zum Verkehrshindernis werden. Immer wieder müssen wir ausweichen. Angeblich gehören sie zu jemandem, denn in einem Haus sehen wir im Erdgeschoss einen Stall.
Das Main Ghat ist im ständigen Fluss. Das Gewimmel an Farben und Menschen mit ihren Geschichten vor der imposanten Fassade von Palästen und Tempeln angefüllt mit Stimmen und Geräuschen überfordert den Betrachter. Mir scheint es unmöglich, in Strukturen zu denken. Man muss sich einfach darauf einlassen. Es werden unvergleichliche Momente, wenn man mantraartig vor sich hinsummt: „No boat, no shave, no hand massage!“




Lepra oder Selbstvrstümmelung?
Schlangenbeschwörer mit Kobra

Friseur


Braut mit Schmuck auf der Ünerführung zum Haus des Ehegatten

 "Burning Ghat" - Aus sicher Distanz kein Problem...

In kleinen Zeremonien tragen Pilgergruppen einen roh gebrannten Tonkrug zum Fluss. Er enthält die Asche eines verstorbenen Angehörigen. „When people die, karma finished. They bring the ashes tot he Ganges for new karma“ erklärt uns der Guide. Die Tontöpfe sehen wir später an einem Banyan Baum neben einem kleinen Schrein hängen.



In Varanasi zu sterben und verbrannt zu werden, ist der hinduistischen Mythologie zufolge, der Ausbruch aus dem ständigen Kreislauf der Wiedergeburt. Entsprechend gibt es entlang der Ghats zahlreiche Hospitze, typischerweise unterhalb der Wasserlinie des Höchstpegelstandes des Ganges und auch in den unteren Etagen von Guest Houses. Wer hier nicht stirbt, dessen Asche wird zumindest hier verstreut. Reiche Inder dagegen lassen ihren Körper in Kühlwagen hierher bringen. Nur 10 Minuten zu Fuß vom Main Ghat entfernt, liegt das Burning Ghat. Hier werden die Körper verbrannt. Es ist unschwer zu erkennen an den rußgeschwärzten Fassaden, den spitzen Tempelspitzen und den mächtigen Holzstapeln. Die Feuer lodern meterhoch und erzeugen einen beißend aufsteigenden Qualm.

Dieses Handwerk wird von der untersten Kaste betrieben. Ein Gang durch diese Stätte erdet für alles Irdische. Barfuß schleppen zierlich ausgezehrte Menschen meterlange Baumstämme vom am Ufer liegenden Kähnen zum Ghat empor. Es riecht nach Urin und Rinderkot. Die Wege sind Holzspänen, Plastikmüll, Kuhfladen und Ziegenkötteln übersät. Das Vorwärtskommen ist beschwerlich. In den dunklen Bögen und in den Fensterrahmen leerer Häuser sitzen die Menschen und schauen stumm auf den Passanten. Die Blicke sprechen Bände. Ein Wasserkessel mit rußgeschwärztem Boden dampft. Es gibt Tee aus Alubechern. An jeder Ecke werden Stämme mit der Axt und einem Weißel gespalten.

Es gibt Wagen, auf denen die Stämme gewogen werden. Für eine Verbrennung bedarf es ca. 300 kg Holz, das Kilo für 250 bis 2500 Rupis, je nach Art des Holzes. Begehrt für den guten Geruch ist Zedernholz. Wer es sich nicht leistet, kann sein Feuer mit Sägespänen unterschiedlicher Holztypen „pimpen“, die ich in zwei nahen Geschäften neben den Tonkrügen sehe. Dazwischen wird der Leichnam gelegt, oft sieht man noch einen roten Sari oder ein weißes Tuch.

Zwischen zwei Hindutempeln kann man von einem Balkon aus auf die Feuerstellen sehen. Ich zähle 10 Aschehaufen, aber zur Morgenstunde noch keine aktive Feuerstelle. Vielleicht warten sie ab, bis die Welle der Touriboote vorbeigefahren ist. Abends dagegen schlagen die Flammen hoch. Ein beißender Holzgeruch erfüllt die Luft. Angehörige stehen um die Feuer. Später sammeln sie die Asche in den Tonkrügen ein, um sie im Fluss zu verstreuen. Jeder Hindu wünscht sich, dass diese Zeremonie von einem Sohn abgehalten wird. Dieser muss sich dafür den Kopf rasieren lassen. Auch werden vom Vater Bart- und Kopfhaare aufbewahrt.
Ca. 150 Verbrennungen sollen täglich stattfinden. Ein Scheiterhaufen brennt dafür 2 bis 3 Stunden. Nur gegen Zahlung einer Gebühr von 1000 Rupies darf man mit einer „Permit“ innerhalb dieses Ghats  fotografieren. Wehe dem, der sich wagt, ohne diese Bilder zu machen. Aus dem Nichts heraus springen sofort Angehörige dieser Kaste auf den Schuldigen zu. Im günstigsten Fall wird er beschimpft, belehrt oder zur Zahlung aufgefordert. Löschen der Bilder zählt nicht. Einem Japaner soll kurz vor unserem Besuch die Kamera entrissen und zerstört worden sein. Dies bezeugte wiederum ein Amerikaner, dem man unsanft in den Arm griff.

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